Zu meinem Selbstverständnis der Aufgaben der Allgemeinen Pädagogik
Moderne Gesellschaften sind durch eine vielfältige Ausdifferenzierung und eine weitgehende Professionalisierung der pädagogischen Angebote und Leistungen gekennzeichnet. In den unterschiedlichen pädagogischen Praxisfeldern von der Krippenerziehung über die Grundschul- und Gymnasialpädagogik bis zur Erwachsenenbildung, von der außerschulischen Jugendarbeit über die Integrationspädagogik bis zur betrieblichen Weiterbildung, von der Familienerziehung über die heilpädagogische Frühförderung bis zum Jugendstrafvollzug, von der Gesundheitserziehung über die Sport- und Museumspädagogik bis zur Umweltpädagogik werden mit unterschiedlichen Methoden und Konzepten bei unterschiedlichen „Adressaten“ unterschiedliche Ziele verfolgt. Die Erziehungswissenschaft selbst ist entsprechend in viele, z.T. hochspezialisierte Teildisziplinen aufgegliedert, die die Entwicklungsprozesse in jenen unterschiedlichen Wirklichkeitssegmenten und Praxisfeldern jeweils kritisch reflektieren, die Konzeptionen für jene speziellen Aufgabenbereiche entwerfen und pädagogische Wirkungsmöglichkeiten erforschen.
Der Allgemeinen Pädagogik wird angesichts jener fortschreitenden Differenzierungs- und Spezialisierungsprozesse gemeinhin die Aufgabe zugewiesen, an einem „geistigen Band“, an einem verbindenden „pädagogischen Grundgedankengang“ zu arbeiten, der jene auseinanderstrebenden pädagogischen Tätigkeits- und Reflexionsfelder verknüpft und der somit die Identität der Disziplin sichern soll.
An der Pädagogischen Hochschule ist der Fokus primär auf die Lehrerbildung und damit auf die Institution Schule gerichtet. Von daher ist die Relevanz der Fachdidaktiken und der Schulpädagogik offensichtlich. Hier geht es um die „Lehrbarkeit der Welt“, um Vermittlungsstrategien, um Unterrichtskonzepte, und um schulische Organisationsformen. Die Allgemeine Pädagogik ist dagegen stärker anthropologisch orientiert. Sie fordert die künftigen Lehrerinnen und Lehrer auf, über den Tellerrand ihrer Institution hinauszuschauen, die Kinder und Jugendlichen, die die Schule durchlaufen, nicht nur als „Adressaten von Unterricht“ zu betrachten, sondern sie in ihren Lebenszusammenhängen wahrzunehmen, also auch mit ihren familiären Bezügen, ihren Freundschaftsverhältnissen, ihren kulturellen Verwurzelungen, ihren biographischen Verstrickungen, ihren Widerständen und Störungen, ihren alters- und geschlechtsspezifischen Problemen, Interessen und Wünschen. Aber es geht auch darum, all das in den Blick zu nehmen, was sich jenseits der Vermittlung von Lehrinhalten in der Schule noch abspielt: In den Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern und in den Interaktionen der Schülern untereinander. Was macht die Schule als Institution mit den Kindern und was machen die Kinder mit der Schule? Welche Haltungen, welche Normen und Werte werden hier jenseits des offiziellen Lehrplans vermittelt und welche Chancen hat die Schule, neben dem Unterricht auch noch einem „Erziehungsauftrag“ gerecht zu werden?
Natürlich stehen pädagogische Fragen, also Fragen nach den angemessenen Formen des Umgangs zwischen Erwachsenen und Kindern, nach den Wirkungen veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse auf das Aufwachsen von Kindern und nach der sinnvollen Gestaltung jener Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche auf eine ungewisse Zukunft sinnvoll vorbereitet werden können, immer stärker in der öffentlichen, mediengeprägten Diskussion. Vieles wird hier als Empfehlungen gegeben, als Wirkungen behauptet, als Versagen beklagt, als Veränderung gefordert, als Innovationen gefeiert, als Lösung gepriesen, was sich bei genauerer Betrachtung keineswegs als so spektakulär neu und keineswegs als so durch Erfahrung gesichert erweist, wie es präsentiert wird. Der Allgemeinen Pädagogik kommt auch angesichts dieser irritierenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Argumente und Forderungen die sich in der öffentlichen Diskussion finden, die Aufgabe zu, ein Stück pädagogischer Besonnenheit und kritische Vernunft zur Geltung zu bringen um die gerechtfertigten und die ungerechtfertigten Vorwürfe sowie die realistischen und die unrealistischen Erwartungen bezüglich dessen, was Erziehung zu leisten vermag, zu sondern. Erforderlich ist dafür freilich auch die Kenntnis und Vergegenwärtigung der historischen Traditionslinien, der klassischen Problemformulierungen und Lösungsversuche. In diesem Sinne ist die Allgemeine Pädagogik auch so etwas wie die Hüterin und Ordnerin der pädagogischen Ideen und der mit diesen Ideen gemachten Erfahrungen.
Von daher ergeben sich eine Reihe von Frage- und Aufgabenstellungen die traditionellerweise den Kernbereich der Allgemeinen Pädagogik ausmachen und mit denen sich Studierende entsprechend vertraut machen sollten:
· Die Klärung und Ordnung der Begriffe, der Grundkategorien, mit denen die erzieherische Absichten, Prozesse, Wirkungen in den pädagogischen Feldern angemessen beschrieben und analysiert werden können. Da es freilich letztgültige Klärung und Verbindlichkeit, über alle Positionen hinweg, also verbindlich gültige Definitionen von „Erziehung“, „Bildung“, „Bildsamkeit“, „Mündigkeit“, „Sozialisation“, „Entwicklung“, „Unterricht“, „pädagogischer Bezug“, „Identität“, „Lebenslauf“, etc. nicht gibt, geht es meist eher um eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen Traditionen der Begriffsverwendung und somit um bewußte und begründete Begriffswahl. Ferner geht es darum, diese Begriffe in ihren Relationen zueinander zu verstehen, sie in ein sinnvolles Gefüge einzuordnen.
· Quer durch alle pädagogische Teilbereiche stellen sich immer wieder ähnliche pädagogische Grundsatzfragen, wie etwa die nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, dem Recht auf individuelle Besonderheit und der Notwendigkeit von gesellschaftlicher Anpassung, nach dem Verhältnis von momentanem Bedürfnis und Verantwortung für die Zukunft, nach dem Verhältnis von Freiheit und Zwang, Selbstbestimmung und Autorität, von Norm und Normverletzung, von Hilfe und Kontrolle, von Belehrung und Manipulation, nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, von pädagogischen Zielen und pädagogischen Mitteln, von erzieherischer Absichten und erzieherischen Wirkungen, etc.. In der Allgemeinen Pädagogik wurden und werden all diese grundlegenden Fragen seit langem diskutiert. Auch wenn es zu den meisten dieser Fragen keine klaren, eindeutigen, endgültigen Antworten gibt, so ist es doch notwendig, die Differenziertheit der Diskussion und die argumentativen Begründungen der unterschiedlichen Sichtweisen erst einmal zu Kenntnis zu nehmen, um nicht den weit verbreiteten naiven und übersimplifizierenden Lösungsvorschlägen aufzusitzen.
· Darüber, ob es so etwas wie „Grundprinzipien des Erzieherischen“ oder gar ein „Wesen des Erzieherischen“ gibt, das sich als konstitutives Element in allen pädagogischen Beziehungen, Feldern und Verhältnissen identifizieren läßt, ja das diese überhaupt erst zu pädagogischen Beziehungen, pädagogischen Feldern und zu pädagogischen Verhältnissen macht, bestehen ebenfalls durchaus unterschiedliche Meinungen. Es gibt verschiedene elaborierte Versuche, solche Prinzipien zu formulieren und es gibt andererseits geistvolle Begründungen dafür, warum dieser Anspruch gar nicht eingelöst werden kann. Dennoch ist es notwendig, sich mit dieser Frage und mit den entsprechenden Lösungsversuchen auseinanderzusetzen.
· Ferner geht es in der Allgemeinen Pädagogik um eine Klärung der typischen, wiederkehrenden pädagogischen Denkmuster und Argumentationsfiguren sowie um die Analyse der unhinterfragen Voraussetzungen und der impliziten Menschenbildannahmen in konkreten pädagogischen Konzeptionen. Dazu ist es notwendig, die in der Geschichte der Pädagogik entwickelten, „klassischen“ Problemformulierungen und Lösungsansätze zu den Grundfragen und Grundparadoxien der Erziehung zu vergegenwärtigen Nur vor einem solchen historischen Horizont pädagogischer Ideen ist es möglich aktuelle Entwürfe und Programme angemessen einzuordnen und zu beurteilen.
· Auch der aktuelle erziehungswissenschaftliche Diskurs ist von einer Pluralität unterschiedlicher Ansätze mit je unterschiedlichen Traditionen, unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten, unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Grundannahmen und unterschiedlichen Forschungspraktiken geprägt. Die Allgemeine Pädagogik ist einerseits der Ort, an dem die Diskussionen und Kontroverse zwischen diesen unterschiedlichen Ansätzen stattfinden, die Instanz, vor der die einzelnen Ansätze nachweisen müssen, daß sie einen sinnvollen Beitrag zur Aufklärung erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen beitragen können und sie ist zugleich die Instanz, die immer wieder versucht, ein Stück Überblick und Ordnung, vielleicht gar Systematik in das unübersichtliche Dickicht der Ansätze und Positionen zu bringen, unterschiedliche Zugangsweisen und unterschiedliche Wissensformen auseinander zu sortieren. In diesem Sinn kommt ihr eine strukturierende Funktion zu. Indem sie zugleich die Entwicklungen des Faches selber, die Differenzierungs- und Spezialisierungsprozesse, die Paradigmenwechsel, die Schwerpunktsetzungen im Sinne der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftsforschung beschreibt, kommt ihr zudem eine wichtige selbstreflexive Funktion zu.
· Allgemeine Pädagogik ist jedoch nicht nur selbstbezüglich mit der eigenen Geschichte, der eigenen Identität als wissenschaftliche Disziplin und der internen Diskussion der unterschiedlichen pädagogischen Positionen beschäftigt, sondern sie befaßt sich auch mit den grundlegenden, die konkreten Praxisfelder übergreifenden Fragen danach, was denn überhaupt die Erwachsenengeneration von der heranwachsenden Generation will (Schleiermacher). Damit steht natürlich auch die Frage nach der pädagogischen Legitimierbarkeit all jener Erwartungen und Forderungen zur Diskussion, die den Bildungseinrichtungen von Seiten der Wirtschaft, der Politik, der Kirchen und der Verbände zugemutet werden.
· Andererseits geht es auch darum, welches Selbstverständnis, welche Bedürfnisse, welche Ansprüche, welche Erwartungen die nachwachsende Generation ihrerseits an die Erwachsenen hat und wie sich all dies im Laufe der historischen Entwicklung verändert hat. Es geht also um ein Bewußtsein von den Veränderungen des Generationsverhältnisses und damit um die Veränderungen von Kindheit, Jugend und Erwachsenseins in historischer Perspektive. Natürlich ist dabei insbesondere die Frage, welchen Einfluß aktuelle gesellschaftliche Veränderungstendenzen auf die weitere Entwicklung dieses Verhältnisses haben von besonderem Interesse.
· Eng damit verbunden ist auch die Frage, welche Wissensbestände, welche Kompetenzen, welche Tugenden in diesem Generationenverhältnis als überlieferungswürdig und zukunftsbedeutsam eingeschätzt werden. Dies ist der Kern dessen, womit sich Bildungstheorien befassen. Worauf kommt es vordringlich an, was braucht man, um sich in einer immer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden, um sein Leben verantwortlich und selbständig führen zu können, um zwischenmenschliche Beziehungen befriedigend gestalten zu können, um zur gesellschaftlichen Teilhabe in verschiedenen Bereichen fähig zu sein, um den Herausforderungen der Berufswelt gewachsen zu sein? Welche Erfahrungen sind es, die hier biographisch bedeutsam sind? Welche Risiken und welche Chancen enthalten die tiefgreifenden Veränderungen des Aufwachsens, die in den letzten Jahrzehnten zu beobachten sind, in dieser Hinsicht? Welche neuen Herausforderungen und Aufgaben ergeben sich durch diese Veränderungen für die institutionalisierte Pädagogik?